Innovation ja, Disruption nein? – Typische Probleme bei der Vertriebs-Digitalisierung im Mittelstand

Innovation oder Disruption – Praxisbeispiel Mittelstand

Disruption oder Inkrementell? Was sind typische Probleme bei der Vertriebs-Digitalisierung im Mittelstand? Die Digitalisierung des Vertriebs ist für viele Mittelständler immer noch eine Quelle für Innovation. Allerdings wird im Mittelstand gerne inkrementell, also als aufeinanderfolgende Schritte basierend auf dem jetzigen Stand, statt disruptiv, bzw. als schlagartige Abkehr von bisherigem Vorgehen, gedacht und Digitalisierungsprojekte angegangen.

 

Das ist aus unserer Sicht bei etablierten Unternehmen auch der risikoärmere Weg. Doch wieviel Risiko muss sein und wieviel Sicherheit ist vernünftig? Diese Frage können Unternehmen ohne Erfahrung in der Vertriebs-Digitalisierung eigentlich kaum beantworten.

 

Schon der berühmte Dichter Friedrich Schiller sagte vor mehr als 200 Jahren „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“.  Doch was heißt „mit der Zeit gehen“ im digitalen Vertrieb konkret? Wie kann man erkennen, ob man zu inkrementell oder doch zu disruptiv vorgeht?

 

1. Die goldene Regel „Geschwindigkeit ist alles“

Dies können Sie bedenkenlos als „Mantra“ für die Digitalisierung Ihres Vertriebs verwenden und alle Ihre Aktivitäten gegen diese Regel prüfen, unabhängig davon ob Ihre Vorgehensweise Disruption oder Inkrementell ist. Die Interpretation ist allerdings nicht ganz einfach. Deshalb möchten wir Sie auf die häufigsten Tücken hinweisen, denn es gibt durchaus Situationen bzw. Prozesse bei denen die höchste „Geschwindigkeit“ nicht auf die beste Umsetzung hinweist. Wie man diese Prozesse erkennt und wie man anschließend damit umgeht, dazu im Folgenden mehr.

 

2. Das Gegenteil von Geschwindigkeit = Komplexität?

Komplexität ist gerade im B2B Geschäftsleben sehr verbreitet. Es gibt komplexe Preisregeln, komplexe Produkte und komplexe Prozesse. Kann man diese Themen mit Digitalisierung beschleunigen, oder besser gefragt, sollte man das?

 

2.1 Registrierung – Ein Beispiel für Disruption

Nehmen wir als Beispiel den Registrierungsprozess für Neukunden. Dieser Prozess ist bei vielen Unternehmen so definiert, das Interessenten sich zunächst um den Status „Kunde“ bemühen müssen, indem sie einen Antrag stellen, Informationen zu Ihrem Unternehmen einreichen und Dokumente beizubringen haben. Als Begründung dafür hören wir i.d.R., dass nicht jeder Kunde werden darf und insbesondere B2C Kunden abgewiesen werden sollen. Weiterhin bezahlen Geschäftskunden i.d.R auf Rechnung. Dafür muss eine Bonitätsprüfung durchgeführt werden, um den Bestellrahmen festlegen zu können.

 

Damit überhaupt die Prüfung stattfinden kann, muss der potentielle Neukunde zunächst jede Menge an Informationen, wie z.B. den Handelsregisterauszug, die genaue Firmierung, etc., beibringen.

Anschließend befindet das Unternehmen, ob der potentielle Neukunde tatsächlich Neukunde werden darf, legt ggfs. ein Kundenkonto für ihn an und informiert den potentiellen Neukunden über die Entscheidung. Hier haben wir einen typischen Prozessablauf „Registrierung“, den wir in einem unserer Projekte vom Kunden bekommen haben, abgebildet.

Registrierungsprozess

Registrierungsprozess für Neukunden

Zum besseren Verständnis, hier der sich in der oberen Ansicht hinter dem roten Kästchen verbergende Ausschnitt:

Ausschnitt Registrierungsprozess

Ausschnitt aus einem Neukunden Registrierungsprozess

Dieser Prozess ist vor allem eins, nämlich langsam. Sollte man diesen Prozess so digitalisieren? Grundsätzlich bzw. technisch ginge das natürlich. Über ein Formular könnte der potentielle Neukunde einen Antrag stellen und seine Dokumente digital hochladen. Anschließend wird der Vertrieb z.B. per Email über die Anfrage informiert und kann darüber befinden, ob man dem Antrag stattgibt oder nicht.

Digital ist der Prozess „Registrierung“ sicherlich etwas schneller, als wenn der Kunde eine Email, ein Fax oder einen Brief schicken würde, aber ist das vernünftig? Aus unserer Sicht wäre das falsch. Hier ist mehr Disruption erforderlich. Schauen wir uns den Prozess aber nochmal genauer an und ermitteln, um was es wirklich geht.

 

Zunächst soll bewertet werden, ob der potentielle Neukunde tatsächlich ein Unternehmen ist. Die meisten unserer Kunden sagen heute, dass es Ihnen egal ist, wer bestellt. Solange nicht gegen gesetzliche Auflagen verstoßen wird, da z.B. für den Erwerb gewisser Produkte Fachnachweise erforderlich sind, reicht es ihnen die Umsatzsteuer ID zu prüfen. Stand heute kann man zwar Online diese ID bei der Europäischen Kommission (https://ec.europa.eu/taxation_customs/vies/?locale=de) kostenlos prüfen lassen, aber eben nur die ID und nicht ob diese zum Unternehmensnamen passt. Dafür ist keine Prüfung möglich, aber auch nicht nötig.

 

Würde auf eine genauere Prüfung verzichtet, könnte dieser Prozess als Disruption so umgesetzt werden, dass der potentielle Neukunde jetzt also direkt bestellen kann. Doch ein Thema bleibt. Was ist mit der Bonität? Die meisten B2B Kunden möchten auf Rechnung kaufen. Riskiert man hier nicht seinem Geld hinterher zu laufen? Nicht unbedingt. Zum einen können für Neukunden ausschließlich digitale Zahlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Dann zahlt der Kunde bereits bei der Bestellung und das Risiko ist gering. Es gibt aber auch mehrere Zahlungsdienstanbieter, die gegen eine Gebühr das Risiko des Rechnungskaufs „intelligent“ übernehmen. „Intelligent“ heißt, dass Sie bei Bestandskunden das Risiko übernehmen können und somit keine Gebühr fällig wird.

 

Im Ergebnis haben wir jetzt eigentlich gar keinen Registrierungsprozess mehr, da der potentielle Neukunde nun direkt kaufen kann. Die goldene Regel „Geschwindigkeit ist alles“ ist voll erfüllt, indem der Registrierungsprozess digital disruptiv gedacht und umgesetzt wurde.

 

2.2. Komplexität – Immer ein Hinweis auf Disruption als Vorgehensweise?

Jetzt könnte man ja glauben, das man alle Prozesse vollständig digitalisieren kann, indem man die Komplexität soweit wie möglich eliminiert, oder? Bei komplexen Produkten können z.B. Konfiguratoren eingesetzt werden, die dem Kunden ermöglichen seine Lösung direkt online zusammenzustellen und sofort zu bestellen.

 

Leider ist dies in den meisten Fällen zu disruptiv gedacht. Ist z.B. die Komplexität der eigenen Produkte nur hoch genug, ist es sinnvoller den digitalen Vertriebsprozess zu einem analogen Beratungsgespräch zu führen und die Beratung an den Menschen zu übergeben. Für die meisten Kunden, die komplexe Produkte oder Services haben, macht eine Disruption zu einem komplett digitalen Vertriebsprozess keinen Sinn.

 

Es ist nämlich unrealistisch, dass ein potentieller Neukunde seine 10 Mio. € Maschine bei Ihnen online konfiguriert und anschließend per PayPal bezahlt, ohne mit Ihnen ein Beratungsgespräch geführt und über den Preis verhandelt zu haben. Mal abgesehen davon, dass ein Großteil der Neukunden vermutlich schon an der Aufgabe der Konfiguration mangels eigener Fachkenntnisse scheitern wird, gilt die goldene Regel „Geschwindigkeit ist alles“ nur dann, wenn man Dinge auch wirklich im Sinne Ihrer Kunden standardisieren kann.

 

Der digitale Vertrieb rund um beratungsintensive Produkte sollte somit nicht das Ziel des Verkaufens, sondern das Ziel eines Verkaufs-/Beratungsgesprächs haben. Eine inkrementelle Umsetzung ist hier i.d.R. der erfolgsversprechendere Weg als Disruption. Beim anschließend stattfindenden Ersatzteil- und Servicegeschäft, ist wiederum eine hohes Maß an Standardisierung möglich. Diesen Verkaufsprozess sollte mal somit als Disruption vollständig digital denken und umsetzen.

 

3. Fazit

Prozesskomplexität ist immer ein Indikator dafür, zu prüfen ob man den Vertrieb hier als Disruption digitalisieren sollte. Die wichtigste Frage ist, ob die Prozesskomplexität für Ihr Geschäft notwendig ist, oder nicht. Die oben aufgeführte Registrierung ist ein Beispiel für unnötige Komplexität, die man nicht digitalisieren sollte. Wenn Sie, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, Schrauben statt Maschinen verkaufen, ist der digitale Verkaufsprozess aber sehr gut standardisier- und damit sehr gut digitalisierbar.

 

Wenn Sie Ihre Prozesse aus diesem Blickwinkel prüfen und hinterfragen, gelingt es i.d.R. auch mit wenig Erfahrung die richtigen Entscheidungen bzgl. disruptiver oder inkrementeller Vertriebstransformation abzuleiten. Im Zweifelsfall sollten Sie ein Beratungsunternehmen hinzuziehen, die sich auf digitale B2B Vertriebsprozesse spezialisiert haben, um Fehlentscheidungen bei der Wahl, ob man disruptiv oder inkrementell vorgehen sollte, zu vermeiden.

Ähnliche Beiträge